Geschenkte Jahre: Den Ruhestand als wertvolle Zeit verstehen

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Muss man erst eine schwere Krise überwinden, um den Ruhestand als Geschenk zu verstehen? Vergeuden wir unsere Zeit im Ruhestand? Was beinhaltet die Lebensphase der Generativität? Was ist entscheidend für sinnvolle „Bonus Jahre“? Und welche inspirierenden Ideen und Tipps haben einige der besten Ruhestandsexperten der Welt?

Einleitung

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, einem Online-Firesite Chat zwischen Chip Conley, dem Mitgründer der Modern Elder Academy, Baja/Mexico, und Pamela McLean, der Leiterin des Hudson Institute of Coaching, Santa Barbara/Kalifornien/USA, beizuwohnen. Ich bin kein großer Freund von Online-Webinaren. Man weiß, dass es sich um Werbeveranstaltungen handelt. Aber diesen Deal geht man ein. Und da ich mich seit längerer Zeit im Rahmen unserer Coaching- und Seminarangebote mit „Ziemlich bester Ruhestand“ intensiv mit dem Thema Ruhestand beschäftige, war ich sehr gespannt, welche zusätzlichen Erkenntnisse die Unterhaltung von zwei der weltbesten Experten auf dem Gebiet des Ruhestandes bringen würde.

Wann man von geschenkten Jahren spricht

Chip und Pam berichteten zunächst beide von ihren überwundenen lebensbedrohlichen Krankheiten und welche Auswirkungen dies auf ihr zukünftiges Leben hatte. Beide wurden ihre Endlichkeit bewusster als je zuvor. Beide betrachteten die nun kommenden Jahre von nun an als geschenkte Jahre. Jahre, die ihnen jetzt viel wertvoller erschienen als noch vor ihren Erkrankungen, wo sie die kommenden Jahre als selbstverständlich wahrgenommen hatten. Ich habe im Übrigen die gleiche Beobachtung in meinem näheren Bekanntenkreis erlebt und kann daher bestätigen, dass die Gedanken um die Endlichkeit des Lebens unweigerlich aufkommen. Und entsprechende Folgen daraus geschlossen werden. Wesentlich radikaler und entschlossener als zuvor.

Dies wiederum führte dazu, dass beide die Nutzung dieser geschenkten Zeit neu überdachten. In direktem Zusammenhang stand damit auch der Gedanke an die abnehmende verbleibende Lebenszeit und dem gleichzeitigen Wunsch, diese zunehmend besser zu gestalten. Bei einem Durchschnittsalter von 82 Jahren verbringt ein Mensch ca. 4.250 Wochen auf der Erde. Im Alter von 65 Jahren sind davon bereits ca. 3.400 Wochen verstrichen. Und nur noch 850 Wochen verbleiben danach – rein rechnerisch und rein statistisch. Aber durchaus lohnend, sich darüber bewusst zu sein.  

Daher fragten sich beide, was für ihr persönliches Leben in der Zukunft wirklich wichtig sein wird. Wie sie ihre geschenkte Zeit weise und sinnvoll nutzen und gestalten wollten. Als bewusster Neustart in eine zusätzliche Lebensphase.

Warum man auch den Ruhestand als geschenkte Jahre betrachten kann

Aber muss man erst eine lebensbedrohliche Krankheit oder andere Krise überwinden, um auch den Ruhestand als geschenkte Jahre zu betrachten?  Im Zusammenhang mit dem Ruhestand soll der Begriff geschenkte Jahre zum Ausdruck bringen, dass wir die Lebenszeit nach unserem Arbeitsleben genießen und sie daher wie ein Geschenk betrachten können. Das man sich allerdings auch redlich verdient hat.  

Im Ruhestand hat man insbesondere die Zeit, sein Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten. Abhängig von der finanziellen und sonstigen Lebenssituation kann man endlich Reisen, Hobbies, Interessen und Leidenschaften verfolgen, sich sportlich, kulturell, kreativ oder sozial engagieren – oder einfach entspannen. Man kann seinen Ruhestand als eine Zeit des persönlichen Wachstums, der Selbstreflexion und der Entfaltung begreifen. Man kann mehr Zeit mit seiner Familie, Verwandten, Freunden und Bekannten verbringen. Die Möglichkeit, diese Zeit in hoffentlich guter Gesundheit und mit weniger Stress zu verbringen, kann man daher ganz bewusst als Geschenk empfinden. Für das man sehr dankbar sein kann.

Wie man die geschenkten Jahre vergeudet

Wenn man die Gedanken der geschenkten Jahre im Hinterkopf hat, ist es umso erschreckender zu erfahren, wie viele Menschen in der westlichen Hemisphäre diese so wertvolle Zeit nicht wirklich zu schätzen wissen und sie mehr oder weniger sinnlos und träge verstreichen lassen.

So verbringen Rentner in den USA im Durchschnitt 47 Stunden pro Woche vor dem Fernseher sowie zusätzlich 10 Stunden mit Social Media und Streamingdiensten. Das sind zusammen 57 Stunden in der Woche und mehr als 8 Stunden täglich! Kein Wunder, dass Laut einer Studie[1] nur etwa 35% die empfohlenen Richtlinien für körperliche Aktivität im Alter erfüllen und eine beträchtliche Anzahl von Rentnern soziale Isolation erleben. Laut einer Umfrage fühlen sich etwa 35% der Senioren in den USA regelmäßig einsam. Zudem verbringen viele Rentner ihre Zeit dazu leider mit vielen passiven Aktivitäten, anstatt sich aktiv zu engagieren oder neue Fähigkeiten zu erlernen.

Die Idee, nach dem Ruhestand Golf zu spielen und das Leben ansonsten vor dem Fernseher zu genießen – kann es das sein?  Oder in den Tag hineinzuleben? Zu sehen was kommt? Ohne eine wirkliche Aufgabe? Ohne eine Rolle im Leben? Ist dies eine sinnvolle Nutzung der geschenkten Zeit? Ist das auf Dauer zufriedenstellend? Ist das der Neustart in eine neue Lebensphase, in der man voller Vorfreude nach vorne schaut? In der man seine Leidenschaften endlich ausleben kann, weil man etwas gewonnen hat, was man vorher nie in dieser Anzahl hatte – nämlich Zeit?[2]  Die Antwort auf all diese suggestiven Fragen ist natürlich: Nein. Das sollte es nicht sein. Denn diese Lebensweise bedeutet Stagnation. Und Stagnation kann bedrohliche Folgewirkungen haben.

Warum man Stagnation im Ruhestand vermeiden sollte

Eine für mich neue Erkenntnis aus dem Firesite Chat war das Kennenlernen der Theorie der menschlichen Entwicklungsstufen nach Erik H. Erikson, einem deutsch-amerikanischen Psychologen und Psychoanalytiker sowie Professor an der Harvard University, Cambridge/ Massachussetts/USA, der eine Theorie der psychosozialen Entwicklung der Menschen in acht, nach Altersstufen aufgebauten Lebensphasen entwickelt hat.

In seinem Modell zeigen stagnierende Menschen in der siebten Lebensphase Verhaltensweisen, die von Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit geprägt sind. Stagnierende Menschen fühlen sich nicht nützlich.  Stagnation führt dazu, dass man sich selbst vernachlässigt, dass man sich von der Gemeinschaft zunehmend abkoppelt, keine Teilhabe mehr hat. Sie kann zu mangelnder persönlicher Weiterentwicklung und zu egozentrischen Verhaltensweisen führen.

Es ist daher sehr wichtig, diese Phase im Ruhestand unbedingt zu vermeiden, da sie dazu führen kann, dass man von anderen isoliert wird und in eine Abwärtsspirale mit negativem Gedankengut gerät. Mit entsprechend negativen Folgen für Zufriedenheit, Wohlbefinden sowie mentaler und physischer Gesundheit.

Die Phase der Generativität  

Das Gegenteil der Stagnation ist die Generativität. Nach dem in den 50ger und 60ger Jahren von Erikson entwickelten Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung tritt die so genannte Generativitätsphase etwa zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr auf. Sie ist die siebte von insgesamt 8 Phasen in seinem Modell. Das aktuelle, durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt in Deutschland aktuell bei 63,4 Jahren. Daher betrifft die Phase der Generativität insbesondere Ruheständler. Was aber bedeutet Generativität und welche Auswirkungen hat sie auf die Menschen?    

Generativität nach Erikson bedeutet die Fähigkeit, sich um zukünftige Generationen zu kümmern und Verantwortung für das gegenseitige Angewiesensein der Generationen zu übernehmen. Sie beginnt oft mit der Elternschaft. Eltern investieren Zeit, Liebe und Ressourcen in ihre Kinder, um ihnen eine stabile Basis für ihr eigenes Leben zu bieten. Aber Generativität geht über die biologische Elternschaft hinaus. Es umfasst auch das Kümmern um andere Menschen. Sei es als Lehrer, Mentor oder Betreuer. Und Generativität zeigt sich auch in kreativen Aktivitäten. Menschen in dieser Lebensphase können Kunstwerke schaffen, Bücher schreiben, Musik komponieren oder Ideen entwickeln.

Insgesamt wird die Phase der Generativität als eine Quelle der Erfüllung und Sinnstiftung angesehen, in der es darum geht das Wohl der nachfolgenden Generationen zu fördern und gleichzeitig das eigene Leben reich und bedeutsam zu gestalten. 

Weitere seiner interessanten Thesen:

  • Wenn ein Mensch ein zweckorientiertes Leben führt indem er viel interagiert und bedeutungsvolle Beziehungen knüpft, entwickelt er eine positive Selbstwahrnehmung. Er bemerkt, dass sein Leben eine Bedeutung hat und dass er einen Beitrag für der Welt leistet.
  • Menschen die sich gebraucht und nützlich fühlen, haben ein intensiveres Empfinden von Glück und Zufriedenheit, eine bessere Gesundheit, ein größeres Wohlbefinden sowie ein geringeres Risiko für körperliche Erkrankungen und die Chance auf eine höhere Lebenserwartung.

Was lernen wir daraus für den Ruhestand?

Frederic Hudson, der Begründer des Hudson Institutes of Coaching in Santa Barbara und leider verstorbener Ehemann von Pamela McLean hat basierend auf der Theorie von Erik Erikson ein Buch herausgegeben, das sich mit der sinnvollen Nutzung der Ruhestandsjahre mit dem Titel „The Bonus Years“ beschäftigt.

Um die Jahre im Ruhestand als Geschenk zu betrachten und sie sinnvoll zu nutzen, gibt es nach Hudson einige wichtige Aspekte zu berücksichtigen, die uns in die Phase der Generativität führen anstatt in die Phase der Stagnation. Es sind auf den ersten Blick Aspekte, die uns nicht gerade neu erscheinen und keine „Rocket Science“ darstellen. Denen wir uns allerdings immer wieder bewusst werden sollten. Insbesondere wenn es darum geht herauszufinden was zu uns passt und wie man die Ideen für den Ruhestand erfolgreich umsetzt.

Zunächst körperliche Aktivität. Sie ist entscheidend für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Regelmäßige Bewegung kann helfen, chronische Krankheiten zu verhindern und die Lebensqualität zu verbessern. Geistige Aktivitäten wie Lesen, das Erlernen neuer Fähigkeiten oder das Verfolgen von Hobbys können unser Gehirn stimulieren und das Risiko von kognitiven Beeinträchtigungen verringern. Soziale Interaktionen sind wichtig, um Einsamkeit und Isolation zu vermeiden. Teilnahme an Gruppenaktivitäten, Ehrenamt, Erwerbsarbeit, Selbständigkeit oder einfach Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen, kann das emotionale Wohlbefinden stärken. Weiterbildung und das Erlernen neuer Fähigkeiten auch im Alter können nicht nur geistig anregend sein, sondern auch neue soziale Kontakte und Möglichkeiten eröffnen.

Aber wie gelangt man in diesen Zustand? Wie bereitet man sich vor? Bei der herausfordernden Aufgabe herauszufinden, welche dieser vielen unterschiedlichen und teilweise auch ungewohnten Aspekte man erschließen möchte und wie man sich einen Fahrplan für die erste Zeit des Ruhestands zusammenstellt, unterstützen wir bei „Ziemlich bester Ruhestand“ mit einem strukturierten Coaching Ansatz. Unser Ansatz beginnt mit einer Bestandsaufnahme und Selbstreflektion des eigenen Lebens. Mit dem „Wheel of Life“. Danach geht es in ein Brainstorming über die Erkundung der eigenen Persönlichkeit, der Talente, der Leidenschaften, der Interessen, der Stärken und der Werte. Anschließend entwickeln wir gemeinsam mit unseren Coachees auf dieser Basis eine grundlegende Idee bzw. Rolle für die ersten Jahre des Ruhestandes, die wir anschließend mit konkreten Ansätzen und Ideen ausfüllen.

Chip’s und Pam’s inspirierende Empfehlungen

Von einem Firesite Chat kann man keine Erläuterung eines 5 Tage langen Programms erwarten. Aber einige grundlegende Anmerkungen. Gestartet wurde mit einer wunderbaren und einer der beliebtesten Fragen aus dem Bereich des Coachings, die auch ich vielen meiner Klienten stelle:

 „Was wirst du in 10 Jahren rückwirkend bedauern nicht getan oder gelernt zu haben? “. 

Im Firesite Chat haben beide weitere grundlegende und inspirierende Ideen und Tipps besprochen:

  • Wir haben nur ein Leben. Wir sterben nur einmal. Wir sollten das Leben daher sehr weise und bestmöglich nutzen.
  • Wir sollten uns fragen, was unvollendet in unserem Leben ist. Welches Leben wir nicht gelebt haben und nun leben möchten.
  • Je besser die Qualität der Fragen ist, die wir uns stellen, desto besser werden die Antworten sein. Und desto besser wird unser Leben sein.
  • Bevor wir nach vorne schauen, sollten wir auf unser Leben zurückblicken. Und verstehen, welche Lehren uns das Leben beschert hat.
  • Wir können und sollten Risiken eingehen und limitierendes Mindset dabei überwinden, soweit es vorhanden ist. Jetzt ist die Zeit für Experimente. Wir müssen nicht mehr erfolgreich sein. Es gibt keinen Leistungsdruck mehr. Wir dürfen herausfinden, was uns wirklich liegt. Und was uns nicht liegt.
  • Wir sollten uns von alten Gewohnheiten trennen. Und neue Dinge und Sachen ausprobieren. Neue Leute kennenlernen, neue Orte. Kreativ sein – Kunst, Musik, Natur oder das Schreiben entdecken. Um nur einige der unzähligen Möglichkeiten zu nennen.

Fazit

Wie in der Einleitung beschrieben war ich gespannt, welche zusätzlichen Erkenntnisse die Unterhaltung von zwei der weltbesten Experten auf dem Gebiet des Ruhestandes bringen würde. Ich habe gelernt, dass man nicht erst eine lebensbedrohliche Situation überstehen muss, um den Ruhestand als geschenkte Jahre anzusehen.

Ich habe das Modell der 8 Lebensphasen nach Erik Erikson kennengelernt, insbesondere die 7te Phase der Generativität. Ich habe gelernt welche Aspekte nach Frederic Hudson für die sinnvolle Gestaltung der „Bonus Years“ wichtig sind und habe viele interessante Wortwendungen mitbekommen, die sich für mich in der englischen Sprache wesentlich aussagekräftiger und emotionaler anhören als in der deutschen Sprache. Ich denke dabei an Sätze wie: „You only die once“. Oder auch: „Be aware about what really matters and what is important and meaningful to yourself.”  Dem ist nichts hinzuzufügen.


[1] Statistiken zu Freizeit in USA | Statista. https://de.statista.com/map/nordamerika/usa/freizeit.

[2] Natürlich kann jeder Mensch sein Leben so gestalten, wie er oder sie es möchte. Und wie man damit zufrieden ist. Wenn man mit Golf spielen und 47 Stunden Fernsehen in der Woche zufrieden und glücklich ist, dann wird dies das Lebensmodell sein. Wobei das Golfspielen insbesondere für ältere Menschen als ein sehr gesunder und ausgleichender Sport angesehen wird. Man bewegt sich in der Natur, muss sich konzentrieren und ist im Idealfall mit anderen Menschen auf dem Platz und danach in gemütlicher Runde zusammen. Und wenn man sich geschickt anstellt, kann man diesen Sport auch mit einem geringeren Budget ausüben.